Orkus - German - July 1, 2003
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Knäste, fiese Typen und der Tag am Meer
April 2003. Wenige Kilometer von Münster entfernt, tief im Münsterland versteckt, liegen die Duck Dive-Studios, ein ehemaliger, einsamer Bauernhof, der zu einem hochmodernen Studio umgebaut wurde. Hierhin haben sich In Extremo für einige Monate zurückgezogen, um an ihrem neuen Album zu basteln, und hier gibt es auch erstmalig aktuelle Stücke zu hören, darunter die erste Single Küss mich, mit der die Band Anfang Juni die Charts erobern will. Was hier aus den Boxen schallt, ist zwar deutlich In Extremo, hinterlässt aber trotzdem einen zwiespältigen Eindruck. Ob es an der extremen Lautstärke liegen mag oder an der teilweise noch etwas rohen Version der Songs: die Stücke des anstehenden Werks klingen teils fast unnahbar hart, rockig, beinahe metallisch und lassen frühere Feinheiten vermissen. Abgesehen von zwei akustischen mittelalterlichen Tracks scheint die Formation ebendieses, einst tragende Element ihres Sounds über Bord geworfen zu haben.
Knapp zwei Monate später, Anfang Juni 2003. Wir sitzen im von Michael Rhein aka Das Letzte Einhorn in jahrelanger, mühevoller Kleinarbeit renovierten Bauernhaus inmitten der Kleinstadt Kerpen. "Blödsinn", lautet der Kommentar des Sängers zu obiger Einschätzung. "So viel Mittelalter wie auf dem neuen Album hatten wir schon seit langem nicht mehr. Nicht nur aufgrund der beiden akustischen Titel, sondern auch was Melodien, Texte und die Instrumentierung betrifft." Zeit also, sich den 18 neuen Songs, von denen es letztendlich wohl 13 auf den Langspieler Sieben schaffen werden, nochmals in Ruhe in Michaels kleinem Refugium, das er sich in einem Teil der zum Haus gehörenden Scheune eingerichtet hat, zu widmen. Wie der erste Eindruck auch immer entstanden sein mag, danach ist dieser völlig vergessen. Denn tatsächlich, mit ihrem jüngsten Opus sind In Extremo mitnichten zur reinen Rockcombo mutiert. Auch wenn die Riffs teilweise mächtig sind, ihrem lieb gewonnenen Stil ist die Gruppe nicht im Geringsten untreu geworden. "Ich glaube, dass wir uns die Sachen dort einfach auf einer etwas besseren Anlage hätten anhören müssen. Tatsächlich ist viel von dem, was auf der Platte zu hören ist, dort ein wenig untergegangen."
Orkus:
Erdbeermund, eines der auffälligsten Stücke des neuen Albums, basiert auf einem Text von Francois Villon, von dem es auch einige sehr berühmte Lesungen von Klaus Kinski gibt. Was hat dich dazu gebracht, diesen Text zu verwenden, das Original von Villon oder Kinskis beeindruckender Vortrag? Bekanntermaßen pflegst du ja zu beiden eine sehr enge Beziehung.
Michael Rhein:
In diesem Fall der Text von Villon, der allerdings für diesen Song noch umgearbeitet worden ist. Ich habe Ende der Achtziger damit begonnen, mich ausführlicher mit seinen Werken zu beschäftigen und mir seine Veröffentlichungen zu besorgen. Mittlerweile habe ich fast alle Bücher, die von ihm in Deutschland erschienen sind, darunter eine Ausgabe von 1922; soweit ich weiß, fehlen mir nur noch zwei. Ich spiele auch schon seit einiger Zeit mit dem Gedanken, sogar eine CD mit Texten von ihm aufzunehmen, eine Idee, die mich wirklich sehr reizt.
Orkus:
Und deine Faszination für Kinski? Wie erklärst du die?
Micha:
Ich habe früher mit meinen Eltern die Edgar Wallace-Filme mit ihm gesehen. Wenn er die Szene betrat, meinten sie immer: "Guck mal, da kommt wieder dieser fiese Typ!" Ich war aber schon damals beeindruckt von seinem Ausdruck, seiner schauspielerischen Leistung. Allerdings habe ich mich mit seinen Filmen - und er hat wirklich beeindruckende Filme gedreht - erst später beschäftigt, mein erstes Interesse an ihm waren seine Lesungen. Ich habe mir erst kürzlich auf dem Flohmarkt eine alte Platte von ihm gekauft und bin vor einiger Zeit auf ein altes Tape mit einer seiner Lesungen gestoßen.
Orkus:
Wie ist dein Verhältnis zum Film generell? Hast du Ambitionen, dich irgendwann auch in diese Richtung zu entwickeln?
Micha:
Nein, nicht direkt. Ich habe vor einiger Zeit bei einem Kinderfilm mitgewirkt, bei dem auch Bela B. eine Rolle übernommen hat. Ein Vampirfilm, in dem ich einen Banker gespielt habe, der eigentlich ein Vampir war. Das hat auf jeden Fall viel Spaß gemacht. Na ja, wenn das richtige Angebot käme, würde ich sicher nicht nein sagen. Allerdings würde ich wahrscheinlich direkt beim Casting durchfallen - sobald der eigentliche Dreh beginnt, habe ich keine Probleme, vor der Kamera zu stehen, vorher allerdings funktioniert das überhaupt nicht, da habe ich eine richtige Blockade.
Orkus:
Wie war es dann, ein Video wie Küss mich zur ersten Single der aktuellen Scheibe zu drehen, das ja auch einiges an schauspielerischer Leistung von dir verlangt hat?
Micha:
Sehr anstrengend! Es gab ein paar Szenen darin, in denen ich eine Menge schauspielern musste, auf der anderen Seite hat der Dreh aber unheimlich viel Spaß gemacht. Übrigens habe ich in dem Ost-Berliner Gefängnis, in dem wir den Clip gedreht haben, selber einmal gesessen, für eine Nacht. Wir saßen damals am Alexanderplatz, haben dort ein wenig getrunken und unseren Spaß gehabt, als wir quasi direkt von der Straße weg verhaftet worden sind. Ein reiner Einschüchterungsversuch, zudem hatte dieser Knast den Ruf, einer der ganz harten und miesen zu sein. Py hat dort sogar drei Wochen verbracht.
Orkus:
Ist dir so was öfter passiert?
Micha:
Ja, wir standen doch sowieso die ganze Zeit mit einem Bein im Knast. Ein Mal haben sie mich direkt von der Bühne weg verhaftet und in Handschellen aus dem Saal geführt. Wir haben damals Songs von Ton Steine Scherben gecovert und Texte von Brecht verwendet, teilweise umgeschrieben, auf die "Einheitsfront" und Ähnliches Bezug nehmend, was natürlich gleich als subversiv galt. Dass wir damit ein großes Risiko eingingen, war uns zwar klar, hat uns aber trotzdem nicht davon abgehalten.
Orkus:
Hat man in so einem Moment nicht Angst, die nächsten Monate oder Jahre hinter Gittern verbringen zu müssen?
Micha:
Natürlich, das war ein beschissenes Gefühl, und ich bin froh, dass wir das alles endlich hinter uns gelassen haben, dieses verdammte totalitäre System.
Mittlerweile haben wir den Ort gewechselt und uns auf die wunderschöne Burg Satzvey begeben, eine der ältesten und besterhaltenen Wasserburgen des Rheinlandes. Seit über 300 Jahren im Privatbesitz der Familie des Grafen Beissel von Gymnich, laufen dort gerade die Vorbereitungen zum anstehenden Pfingstfest auf Hochtouren, zu dem sich über mehrere Tage hinziehende Ritterfestspiele veranstaltet werden - die ersten Festzelte stehen bereits, fahrende Ritter und Burgfräulein in farbenfrohen Gewändern wuseln umher. Die Burg selber, vollständig renoviert und bestens erhalten, ist ein beliebter Anlaufpunkt für Touristen und ein kleines Dorf in sich, mit mehreren Schänken, Läden und Buden, und bietet zudem Wohnraum für Spielleute, fahrende Ritter und die dort arbeitenden Händler und Gastronomen. "Wir sind hier im letzten Jahr aufgetreten, in der Urbesetzung von In Extremo. Der Graf steckt sehr viel Energie in diese Veranstaltungen; zu den Ritterfestspielen kommen mittlerweile Tausende von Menschen, darunter unglaublich viele, die ihre Zelte hier direkt aufschlagen und während des gesamten Festes in ihren Kostümen durch die Gegend laufen, was ein wirklich tolles Bild gibt. Dazu werden richtige Ritterturniere veranstaltet, mit Reitern, Herolden und Umzügen." Wir lassen uns nach einem Spaziergang über das Gelände und der Besichtigung einiger der Räumlichkeiten in einer der Schänken nieder. Ein Platz zum Leben? "Ein wunderschöner, ganz sicher, vielleicht nicht für immer, aber doch für eine Zeit lang!"
Zurück zum neuen Album, bei dem In Extremo von einer Anzahl illustrer Gäste begleitet werden, auch wenn die Kooperation in manchen Fällen nur einem Zufall entsprungen ist. Rapper Thomas D. von den Fantastischen Vier ist mit dabei, aber auch H-Blockx-Frontmann Henning und sogar Paddy Kelly haben ihren Teil zum jüngsten Werk beigetragen.
Micha:
Die H-Blockx haben direkt neben dem Studio, in dem wir aufgenommen haben, ihr eigenes Studio, daher lag die Zusammenarbeit nahe. Ähnlich war es bei Paddy Kelly, der zu gleicher Zeit dort im Studio war wie wir. Wir haben uns vor einiger Zeit mal flüchtig auf der Burg Satzvey kennen gelernt - bei einem Ritterturnier saßen wir auf der Tribüne, als sich plötzlich ein Schwarm Mädchen vor uns aufgebaut hat und zu schreien angefangen hat - als wir uns umdrehten, saß hinter uns die Kelly Family. Wir haben uns zwar nur kurz unterhalten, als er uns im Studio getroffen hat, kam er aber direkt auf uns zu und hat mich darauf angesprochen. Bei allem, was über die Kelly Family gesagt und geschrieben wurde, ich habe es ihnen immer gegönnt, dass sie diesen Erfolg hatten. Immerhin haben sie Jahre auf der Straße von ihrer Musik gelebt, was alles andere als einfach ist. Das ist eine harte Schule, und um ehrlich zu sein bin ich sehr froh, dass ich das selber erlebt habe, da man vieles ganz anders ein- und wertzuschätzen lernt.
Orkus:
Für Ave Maria habt ihr euch Thomas D. von den Fantastischen Vier ins Studio geholt. Wie kam der Kontakt mit ihm zustande?
Micha:
Wir kennen uns eigentlich schon seit längerem. Die Musik, die sich machen, ist zwar nicht unbedingt meine, aber ich habe das immer sehr respektiert. Vor einiger Zeit habe ich sie dann unplugged gesehen, was wirklich ein beeindruckendes Konzert war. Sie haben hier einiges auf die Beine gestellt, daher gönne ich ihnen ihren Erfolg auch vollkommen.
Orkus:
Thomas D. wohnt seit einer ganzen Weile in einer Kommune in der Eifel, nicht allzu weit entfernt von dir, aber doch ziemlich weit weg vom Rest der Welt. Wäre das eine Art für dich zu leben?
Micha:
Da, wo er wohnt, sagen sich wirklich Fuchs und Hase gute Nacht. Eine sehr schöne, aber ebenso karge, harte und vor allem kalte Gegend. Nein, für mich wäre das kein Ort, um dort zu leben, diese Art der Einsamkeit würde mir doch nicht zusagen. Auch wenn ich seit ein paar Jahren nicht mehr in Berlin, sondern in Kerpen wohne, bin ich dort immer wieder sehr gerne. Natürlich hat sich dort sehr viel geändert; ein Viertel wie der Prenzlauer Berg, das früher ein unglaublicher Sammelpunkt für eine sehr lebendige Szene war, existiert in dieser Form leider nicht mehr. Der Zusammenhalt, der dort früher geherrscht hat, war wirklich toll. Wenn es jemandem wirklich schlecht ging, wenn jemand mit seinem Leben buchstäblich am Ende war, hat ihn dort keiner hängen lassen, sondern ihm geholfen, wieder auf die Beine zu kommen. Aber auch wenn es dieses Zusammenleben dort nicht mehr gibt, ist die Stadt doch immer noch ein Erlebnis. Für mich ist Berlin die einzig wirklich internationale Stadt, die es in Deutschland gibt, de ich aber auch den meisten Metropolen Europas vorziehen würde. Nach Berlin kommt hier allerdings erst mal eine ganze Weile gar nichts, dann vielleicht Hamburg und Köln. Mit weitem Abstand noch Münster, eine sehr schöne, kleine Stadt, in der sich aber eine sehr vitale Underground-Szene entwickelt hat.
Orkus:
Kommen wir noch mal zurück zu Ave Maria - der Test des Stückes basiert auf einer klassischen Vorlage?
Micha:
Ja, auf dem Original Ave Maria.
Orkus:
Hat das Lied für dich einen religiösen Hintergrund, bist du ein religiöser Mensch?
Micha:
Nein, ganz und gar nicht. Ich habe zwar die klassische katholische Erziehung durchlaufen....
Orkus:
in strenger Form?
Micha:
Es ging, die wöchentlichen Kirchenbesuche, dazu Kommunion und was man sonst noch so macht. Irgendwann habe ich mich daraus aber völlig zurückgezogen. Wenn ich an etwas glaube, dann ist das das Gute und Böse im Menschen, einer Religion gehöre ich nicht an. Der Buddhismus wäre wohl am ehesten eine Glaubensrichtung, mit der ich mich identifizieren könnte.
Orkus:
Wenn man sich so mit dem Mittelalter beschäftigt wie du, muss man sich zwangsläufig viel mit Religion, insbesondere mit dem Christentum auseinander setzen.
Micha:
Und was man dort liest, ist teilweise sehr erschreckend. Was unter dem Namen und Banner des Christentums an Grausamkeiten angerichtet worden ist, raubt einem teilweise den Atem. Was dort geschehen ist, ist schlimmer als in mancher Diktatur. Aber das beschränkt sich nicht nur auf das Christentum, sondern gilt für fast alle Religionen oder Kulturkreise.
Orkus:
Hast du eigentlich nach wie vor ein großes Interesse am Mittelalter, oder hat das mit der Zeit etwas nachgelassen?
Micha:
Nein, absolut nicht, ich beschäftige mich immer noch sehr ausführlich damit. Ich habe vor einer Weile zwei Wochen in der Kölner Universitätsbibliothek verbracht und mich dort durch alte Materialien gekämpft. In Zeiten, in denen wir an einem neuen Album arbeiten, geschieht das natürlich viel intensiver, aber auch sonst lese ich nach wie vor sehr viel darüber.
Orkus:
Bleibt dir für Privates denn überhaupt noch Zeit?
Micha:
Wenig. Eine neue Platte zu machen kostet unglaublich viel Zeit; mit allem, was daran hängt, ist man mindestens ein Dreivierteljahr damit beschäftigt. Die freie Zeit, die ich habe, versuche ich natürlich zum Großteil mit meiner Familie zu verbringen, was mir einfach sehr wichtig ist. Aber so ein bisschen Freiraum für anderes findet sich dabei zum Glück immer noch.
Orkus:
Du hast bereits sehr früh begonnen, Musik zu machen...
Micha:
Eigentlich die ganze Zeit, unsere erste Band hatten wir mit 16 Jahren...
Orkus:
Kam irgendwann der Zeitpunkt, an dem du dir ganz bewusst gesagt hast, jetzt werde ich Musiker?
Micha:
Ich habe zuerst eine ganz normale Lehre gemacht...
Orkus:
Als was?
Micha:
Als Lokmechaniker. Ich habe sogar noch auf einer richtigen Dampflok Kohle geschaufelt! Nach dem Ende der Lehre habe ich noch einige Zeit als Rangiermeister gearbeitet. Eines Tages ist einem Kollegen von mir aufgrund einer falsch gestellten Weiche das Bein abgefahren worden. Das war der Moment für mich, meine Sachen zu packen und mich zu verabschieden. Zu diesem Zeitpunkt aber war ich eigentlich schon sehr lange als Musiker aktiv.
Orkus:
Bist du ein sesshafter Mensch?
Micha:
Nein, überhaupt nicht. Im Gegenteil, mich zieht es eigentlich ständig woanders hin. Dass wir hier bereits so lange leben, hat familiäre Gründe, davon abgesehen aber hätten wir unsere Zelte hier wahrscheinlich schon lange abgebrochen.
Orkus:
Wird der Zeitpunkt kommen, an dem du alles hinter dir lassen und ganz woanders hingehen wirst?
Micha:
Ja, das ist bereits fest geplant. Eine lange Reise - und auf dieser Reise wird sich ein Fleck finden, an dem wir bleiben werden. Was mich besonders fasziniert, ist Wasser, ganz besonders das Meer. Dort kann ich Stunden verbringen, nur am Wasser sitzend, meinen Gedanken freien Lauf lassen. Dann brauche ich auch nichts anderes, kein Buch, keine Musik, alleine dort zu sitzen und den Bewegungen der Wellen zuzusehen reicht mir vollkommen. Dort irgendwo zu leben kann ich mir sehr gut vorstellen, ein kleines Haus am Meer, ein bisschen Fischfang...ja, das ist so ein kleiner Traum!
Orkus:
Zum Abschluß doch noch die Frage zum Albumtitel- warum Sieben? Die sieben Todsünden? Oder die glorreichen Sieben?
Micha:
Nein, viel einfacher: Wir sind sieben Leute in der Band - und das ist unser siebtes Album. Was liegt also näher, als die Platte entsprechend zu betiteln?